"How the World Thinks" von Julian Baggini
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Spannender Einblick in die Philosophien der Welt. Jedoch mehr komparativ-informierter Kommentar zur westlichen Philosophie als umfängliche Darstellung anderer Denksysteme.
Prologue: A historical overview from the Axial to the Information Age
Die drei großen schriftphilosophischen Linien entstanden zu einer ähnlichen Zeit in China, Indien und Griechenland. Dabei zeigten alle drei eine Abkehr vom reinen mythischen Glauben und führten systematischere bzw. rationalere Begründungen ein. Baggini zeigt sehr genau, dass Philosophie am besten als Konzept der Familienähnlichkeit verstanden werden sollte, wobei sie sich auf grundlegende Fragen richtet, die weder rein mythologisch noch empirisch beantwortet werden. Er weist zudem darauf hin, dass übergreifende und pauschalierende Aussagen über diese Linien möglich sind, diese aber nicht als absolute Generalisierungen verstanden werden dürfen .
Part One: How the World Knows
Die indische Philosophie weist der Einsicht besonderer Geister einen hohen Wert zu. Philosophie besteht daher in erster Linike darin, diese Einschten zu interpretieren oder durch spirituelle Praxis selbst zu erlangen. Damit ähnelt sie der japanischen Philosophie, die großen Wert auf ästhetische Einsicht legt.Damit wirkt die indische Philosophie auf der einen Seite sehr elitistische und reproduzierend, die spirituellen Quellen sind jedoch so reichhaltig, dass sie zahlreiche Auslegungen erlauben. Zudem sorgt die Bindung der Philosophie an die Religion dafür, dass diese in der Gesellschaft weit vebreitet und in das Leben der Menschen eingebettet ist. Sie ähnelt damit auch der christlichen Philosophie im frühen Mittelalter.
Ein zentrales Merkmal der asiatischen Philosophie liegt darin, dass endgültige Wahrheiten für sie außerhalb der Sprache liegen und unmittelbar erfahren werden müssen. Entsprechend basieren Religionen nicht auf sprachlichen Glaubenssätzen, sondern auf nach Innen gerichteten Ritualen. In der westlichen Philosophie findet sich dieser Aspekt in der Frage nach dem objektiven Zugang zu der Welt, obwohl wir dabei auf unsere fehlbaren Sinne angewiesen sind.
In der islamischen wie der asiatischen Philosophie gibt es keine so starke Trennung zwische Theologie und Philosophie wie im Westen. Im Islam zeigt sich dies im Konflikt zwischen Falsafa und Karam, die unterschiedliche Schwerpunkte setzen, sich aber als Teil derselben intellektuellen Welt verstehen. Hier darf der Westen nicht auf das zu einfache Narrativ verfallen, die starke Role des Glaubens in der islamischen Philosophie sei für den “Niedergang” der islamische Welt verantwortlich - wenn man es denn überhaupt so nennen will.
Auf der Grundlage des “tertium non datur” hat sich die westliche Philosophie sehr binär entwickelt und unterscheidet klar zwischen wahr und falsch. Auch in Bereichen, in denen das wenig angemessen scheint. Daher muss sie sich z.B. mit Aporien herumschlagen, also einer Gruppe von Aussagen, die jede für sich wahr sind/scheinen, aber untereinander widersprüchlich. Auch die politischen Verwerfungen führt Baggini auf diese Philosophie zurück, die nicht länger von unausgesprochenen Kompromissen überdeckt werden. (#Ambiguitätstoleranz)
Säkulare Vernunft hat sich im. Westen von allen anderen Systemen abgekoppelt und steht als Zweck an und für sich. Dazu kommt eine Dominanz des Empirismus, die reines Denken unzureichend findet. Hier schlägt Baggini vor, diese Trennung eher als Spektrum zu verstehen, auf dem sich Denker verorten. Diese Abtrennung der säkularen Vernunft sorgt allerdings auch dafür, dass sie sich von der Frage nach ihrem Nutzen und damit auch der Frage nach Moral und Ethik entkopelt.
Die Persistenz der Religion in den USA lässt sich über deren eigene Philosophie erklären: den Pragmatismus. Dieser sieht sich nicht mit einer absoluten Wahrheit konfrontiert, sondern hebt die praktischen Effekte von Ideen und Konzepten hervor. Wahrheit wird dabei zu einer Frage des Konsens. In der Philosophie bleibt dieser Konsens an den Empirismus angebunden, in der Politik konnte er sich von ihm lösen.
Alle philosophischen Systeme basieren auf einer langen Tradition. Asiatische und afrikanische Philosophen sind sich desen sehr bewusst, westliche hingen nicht, auch wenn sie sich faktisch darin kaum unterscheiden. Westliche Philosophie ist sogar schlechter darin, Ideen aus anderen Philosophien aufzugreifen als asiatische oder afrikanische. Afrikanische Philosophie hat das Problem, dass sie kaum alte verschriftlichte Quellen hat. Deswegen wurde sie lange nicht als Philosophie akzeptiert. Selbst danach wird sie eher als Objekt gesehen, das durch eine westliche Brille untersucht wird, als als eigenständiges Gedankensystem.
Die großen Philosophien der Welt lassen sich in Wahrheitssuchende und Wegsuchende unterscheiden und darüber, ob sie Sprache als Referenz oder als Führung verstehen. Der Westen sucht Wahrheit und nutzt Sprache als Referenz. Indien liegt eher auf der Seite des Weges, nutzt Sprache aber auch als Referenz. China schließlich sucht einen Weg und nutzt Sprache dabei als Führung.
Part Two: How the World Is
Der Westen ist durch einen linearen Universalismus geprägt , der unvermeidlichen Fortschritt in den Mittelpunkt stellt und von Zeit und Raum losgelöst ist. Andere Denktraditionen arbeiten situierter und auf den konkreten Kontext bezogen. Universalismus an sich ist dabei nicht unbedingt das Problem, sondern unangemessener Universalismus, der westliches Denken als universell konnotiert und lokalisiertes Denken als lokal.
Ideen wie Karma, das sich besonders in der indischen Philosophie findet, verorten unsere Entscheidungen in einem Kontext, der über unser Leben hinaus reicht. Sie können aber auch dazu führen, dass bestehende Strukturen und Ungleichheiten fatalistisch akzeptiert werden.
Gerade die japanische Philosophie legt großen Wert darauf, auch den Weißraum, die Leere, das Nichts bzw. die Vergänglichkeit in den Blick zu nehmen. Nicht als existenzielle Leere, sondern als generative Kraft und Permanenz des Impermanenten.
Die westliche Trennung zwischen Natur und Mensch findet sich nicht in anderen Traditionen. Hier ist der Mensch immer Teil der Natur. Im Chinesischen spielt dabei die kontinuierliche Interaktion, das Qi, eine wichtige Rolle, in der japanischen die Domestizierung durch den Menschen - aber nicht vor dem Hintergrund der Nutzbarmachung sondern vom der Hervorbringung der Perfektion.
Die Einheit der Welt wird besonders im Islam hervorgehoben, der keine Trennung zwischen dem Sakralen und dem Profanen kennt. Dafür aber eine deutliche Trennung zwischen dem Öffentlichen und dem Privaten. Der fehlende Dualismus verhindert eine Hinwendung zu säkularen Werten, die Interpretation des Quran erlaubt jedoch eine Modernisierung des Glaubens an sich, um die Modernisierung der Welt zu verarbeiten.
Die westliche Philosophie ist geprägt vom Reduktionismus. Dieser geht davon aus, dass eine Erklärung daraus besteht, ein Phänomen aus seine Bestandteile zu reduzieren. Das kann eine nützliche Annahme sein und viele Erklärung ermöglichen, es verleitet aber dazu, die Komplexität von Zusammenhängen und Wechselwirkungen zu übersehen.
Baggini grenzt die Metaphysik von der Physik ab, indem er auf das menschliche Leben der Welt abzielt, also das phänomenologische und nicht das tatsächliche Sein der Welt.
Part Three: Who in the World Are We?
Es ist eine spezifisch westliche Perspektive, dass Ich als eine existierende abgeschlossene Einheit zu verstehen. In der indischen Philosophie geht man z. B. davon aus, dass das Selbst oder Ich nicht mehr ist,als eine Sammlung von Wahrnehmungsprozessen. Dabei ist es jedoch wichtig zu berücksichtigen, dass auch in dieser Philosophie das alltägliche Leben so gelebt wird, als gäbe es dieses mysteriöse Ich. Auch in der westlichen Welt findet sich dieser Gedanke immer häufiger, eben im Bezug auf die Fluidität und Veränderbarkeit persönlicher Identität. Das ist jedoch eine wesentlich weltlichere Perspektive als in der indischen Philosophie, bei der es um die Erkenntnis zu dieser Nicht-Existenz geht.
Weil wir uns gezwungen fühlen, unsere Identität und Individualität öffentlich zu präsentieren, ist diese Individualität geringer ausgeprägt und näher an den Massengeschmack angepasst.
Individualism starts with Christianity, which stressed personal salvation, the individual’s relationship with God, the fact that God cares for each one of us. (S. 213)
In vielen Philosophien, insbesondere der japanischen, steht das Individuum nicht für sich alleine, sondern in ganz enger Verbindung zu anderen Menschen. Auf diese Weise werden Entscheidungen, Handlungen und Ereignisse nicht zu individuellen Entscheidungen, sondern vielmehr zum Ausdruck gesellschaftlicher Strukturen. Dabei ist Individualität, wie wir sie im Westen verstehen, keineswegs abwesend, sie steht nur nicht so sehr im Mittelpunkt wie sie das bei uns meist tut.
Das westliche Menschenbild ist geprägt von dem atomistischen Individuum, das Platon in seiner Beschreibung der letzten Tage Sokrates gezeichnet hat. Der Mensch ist demzufolge ein abgeschlossenes Individuum, das für sich entscheidet und sein eigenes Leben unter Kontrolle hat. Jeder Austausch mit anderen Menschen ist freiwillig und autonom. Diese Perspektive ist nicht unwidersprochen, z. B. durch Aristoteles, sie ist aber die dominante Perspektive geworden, die sich auch durch den französischen Existentialismus verbreiten konnte, der sämtliche Fokus auf das Individuum legt.
Think of intimacy in terms of overlapping circles. When the world is seen from an intimacy perspective, nothing is entirely distinct from anything else. Self and other, objective and subjective, rational and emotional, mental and physical: these are not discrete opposites but parts of the same whole. For that reason it is best not to even think of them as having solid edges. Now think of integrity as non- overlapping circles with solid edges. Everything is clearly distinguished from everything else. Each item does of course stand in relation to other things, but their individual identity and essence is primary. (S. 226)
Even in a dominantly integrity culture, ‘people often justifiably trust intimate forms of knowing that cannot be publicly verified but are still, in a significant sense, objective’. 8 We wouldn’t value experience if we really thought that the grounds of all knowledge could be set out objectively in a manual that anyone could follow. (S. 229)
Much of the rise of populism and nationalism in the West is a backlash against the gradual erosion of belonging. (S. 231)
Part Four: How the World Lives
Der chinesische Fokus auf Harmonie wird oft als Gleichartigkeit missverstanden. Er betont vielmehr das reibungslose Zusammenwirken der Menschen in unterschiedlichen Positionen. Die dabei entstehenden Hierarchien haben sich mittlerweile jedoch verselbständigt.
Harmonie ist ein zentraler Bestandteil vieler globaler Philosophien. Sie ist vielleicht sogar ein grundlegenderer Wert als der der Freiheit, den wir im Westen so hoch halten. Dabei hat die Harmonie immer die Gefahr, Herrschaftsformen oder Umstände zu rechtfertigen, die für bestimmte Gruppen in hohem Maße nachteilig sind.
In der westlichen wie der chinesischen Philosophie spielt die Idee des guten Lebens (virtue) eine wichtige Rolle. Diese betont das richtige Handeln, das gute Handeln, bezieht sich dabei jedoch nicht auf starre Regeln, sondern auf das gemäßigte, das mittlere Handeln. Dieses mittlere Handeln ist jedoch flexibel und der Situation wie der Person angemessen. Es folgt nicht starren Regeln oder ist absolut gesetzt. In der westlichen Philosophie hat diese Idee ein wenig an Einfluss verloren, sie ist mittlerweile stärker durch klare Regeln geprägt.
Gerade in Virtue-basierten moralischen Systemen spielen moralische Vorbilder eine ganz zentrale Rolle. Diese leben Virtue und prägen durch ihr Beispiel andere Menschen, die ihrem Vorbild folgen. Dabei geht es nicht um Macht, Reichtum oder Anerkennung als Selbstzweck, sondern als Indikator für gutes moralisches Handeln. Ein solches Handeln wiederum ist jedoch nur in grundsätzlich guten Gesellschaften möglich und mit einem gewissen ökonomischen Standard.
Die indische Philosophie ist eng verbunden mit der Idee der Erlösung. Diese ist jedoch nicht im weltlichen Erfolg zu finden, sondern in Erkenntnis, dem Wissen um das eigentliche Wesen der Welt. Hier sind also Spiritualität und Wissenschaft eng miteinander verbunden. Gleichzeitig setzt die Philosophie keine Askese voraus und lehnt auch nicht grundsätzlich weltlichen Wohlstand ab. Vielmehr ist hier ein Spektrum zu finden, das Wohlstand auch als angemessenes Werkzeug akzeptieren kann oder tatsächlich auch als Ziel an sich.
Die japanische Philosophie legt großen Wert auf das Erleben im Moment und die unmittelbare Ästhetik im klassischen Sinne. Es geht hier nicht um logische Schlussfolgerungen, sondern eine Empfindsamkeit für das unmittelbare Erleben. Damit rückt auch das Vergehen der Zeit in eine zentrale Position.
Westliche Ethik ist stark von der Idee der Unparteilichkeit geprägt, die die Ideale der Freiheit und der Gleichheit verbindet. Der strenge Utilitarismus ist jedoch extrem anspruchsvoll, da er im Grunde einen einheitlichen Lebensstandard fordert. Jede Ausgabe über das Notwendigste hinaus hätte anderswo mehr Nutzen generieren können.
Ideen können nicht isoliert voneinander verbunden werden, sondern sind, ähnlich wie bei einem Mischpult, aufeinander abgestimmt. Auch philosophische Systeme unterscheiden sich meist lediglich in dieser Mischung.
Part Five: Concluding Thoughts
Auch wenn die moderne Welt global wirkt, haben die unterschiedlichen kulturellen Perspektiven nach wie vor einen großen Einfluss auf das Leben der Menschen.
Der Schwerpunkt der russischen Philosophie, die in diesem Kontext gerne übersehen wird, ist der Zusammenhalt der Gesellschaft oder der Nation zusammen mit einer gewissen Konformität und der ständigen Angst des Auseinanderbrechens.
The most complete picture we can form is therefore like a cubist painting, which combines perspectives that could not all be seen from one point of view on the same canvas. Call this the cubist perspective. (S. 352)
Inattention to the peculiarities of a philosophy’s own place and to philosophy in other places confuses the admirable aspiration for greater objectivity with a misguided ideal of placeless universality. (S. 354)