"Exact Thinking in Demented Times" von Karl Sigmund

  • Cover

    Faszinierender Einblick in einen kleinen philosophischen Kreis, der maßgebliche Grundlagen für die Wissenschaft im 20. und 21. Jahrhundert gelegt hat.

    Notizen

    ONE Bringing the Vienna Circle into Focus

    Ziel des Wiener Kreises war die Unabhängigkeit von der Metaphysik, die eine Welt außerhalb der menschlichen Wahrnehmungs- und Verstehensfähigkeit annahm. Der Wiener Kreis setzte auf eine rein wissenschaftliche Perspektive, die abschätzig auf philosophische “Scheinprobleme” schaute und die gesamte Welt als der Wissenschaft zugänglich erklärt.

    Zwei historische Debatten rahmen die Zeit des Wiener Kreises: Die Diskussion “Existieren Atome?” zwischen Boltzmann und Mach auf der einen Seite und die “Existieren philosophische Probleme?” zwischen Popper und Wittgenstein.

    TWO A Tale of Two Thinkers

    Im Laufe des 19. Jhdts zogen sich immer klarere Grenzen zwischen den unterschiedlichen Wissenschaften. Die Philosophie blickte dabei sehr skeptisch auf die Naturwissenschaften: “words like positivistic, materialistic, and utilitarian soon took on a highly negative flavor, connoting a shallow soul and a contemptible impotence, unable to fathom the true depths of idealistic philosophy.” (S. 11)

    Für Ernst Mach gibt es keine Welt “an sich”, sie besteht lediglich aus den Sinneswahrnehmungen des Menschen. Um diese Sinneswahrnehmungen zu systematisieren und mit ihnen arbeiten zu können, schaffen wir Theorien als Hilfsmittel des Denkens. Sie beschreiben damit keine unabhängige Realität.

    Einstein über Ernst Mach: “even those who view themselves as Mach’s opponents are hardly aware of how much of his viewpoint they have soaked up, so to speak, with their mother’s milk.” (S. 11)

    Boltzmann sieht im Gegensatz zu Mach eine manifeste Welt, die sich durch wissenschaftliche Theorien faktisch beschreiben lässt. Dadurch werden auch Erklärungsmodelle möglich, die nicht rein analytisch arbeiten - z. B. die statistische Mechanik.

    THREE A Trial Run for the Vienna Circle

    Ziel des Wiener Kreises war es, die Mehrdeutigkeit und Unverständlichkeit der klassischen Philosophie loszuwerden. Sie wollten Wissenschaft und Philosophie wieder zusammenführen - auf einer wissenschaftlich-logischen Grundlage.

    Der Welle-Teilchen-Dualismus machte deutlich, dass nützliche modellhafte physikalische Erklärungen uns Menschen an die Grenzen unser intuitiven Vorstellung führen können. Es stellt sich also die Frage, ob die klassische Erklärung tatsächlich das primäre Ziel der Physik sein kann.

    Für Hertz war das einzige Kriterium der Gültigkeit einer physikalischen Theorie ihre mathematische Überprüfbarkeit und ihre Kongruenz zu den beobachtbaren Fakten.

    Poincaré hielt die Naturgesetze für Erfindungen des Menschen, die uns helfen, konkrete Beobachtungen konsistent zu erfassen und zu strukturieren.

    Hilbert formulierte die Grundlagen der euklidischen Geometrie und verzichtete dabei auf eine klare Definition zentraler Begriffe - wie z. B. einem Punkt. Er beschränkte sich vielmehr darauf, die Beziehungen zwischen unterschiedlichen Begriffen zu beschreiben.

    Das von Russell formulierte Paradox der Menge, die sich selbst als Element enthält, zeigte den inhärenten Widerspruch der Mengenlehre und damit der gesamten Mathematik. Zudem wurde auch ihre Abhängigkeit von unbeweisbaren Axiomen immer sichtbarer.

    Klimts Fakultätenbilder waren nicht das erwartete Hochamt für den technischen Fortschritt, sondern eine persönliche Reaktion auf die Kleinheit des Menschen, der nicht die Krone der Schöpfung ist, sondern ein kleines Blatt, geworfen vom Wind und ohne klare Verankerung in der Welt.

    Musil über die Bodenlosigkeit der Mathematik: “Suddenly, the mathematicians— those who brood in the innermost reaches— came upon something deeply flawed at the very crux of the whole structure, something that simply could not be fixed; they actually looked all the way to the bottom and found that the whole edifice [of mathematics] was floating in midair. And yet the machines still worked! We must therefore assume that our existence is a pale ghost; we live it, but only on the basis of an error without which it would never have arisen. Today, there is no other way to experience such astonishing sensations as those of mathematicians” (The Mathematical Man)

    FOUR The Circle Starts Rolling

    Otto Neurath: “We are like mariners who must rebuild their leaky ship while sailing on the open sea, and who are never able to start from scratch. Whenever a beam is removed, it must be replaced immediately by a new one, with the remainder of the ship serving as a means of support. It is in this way that, thanks to old beams and random pieces of wood drifting by, the ship can be completely built again— but only through step- by- step reconstruction”

    Neurath sieht Metaphysik als ein Werkzeug der Bourgeoisie, den wahren Zustand der Welt zu verstehen und undurchsichtig zu machen. Daher gehört sie abgeschafft und durch die Klarheit eines Klassenblicks und einer rational-vernünftig-wissenschaftlichen Perspektive ersetzt.

    FIVE The Turn of the Circle

    Für Wittgenstein und Schlick sind die Aussagen der Logik an sich inhaltsleer und liefern keine Informationen über die Welt. Sie bilden lediglich Tautologien ab: “Logic does not say anything about the world; rather, it has to do with the ways in which I talk about the world. The so- called ‘propositions of logic’ are merely indications that show how something that we have said could be said in various other equivalent ways.” (Hans Hahn, S. 151)

    Logische Aussagen sind zwar tautologisch, sie dienen aber einem wichtigen Zweck, da wir Menschen nicht allwissend sein können (Hans Hahn). Sie erlauben es uns daher, Wissen zu übertragen und Schlussfolgerungen zu ziehen, weil sie die Gleichbedeutung von Aussagen nachweisen können.

    Rudolf Carnap wollte eine Philosophie, die sich ihren Fragestellungen auf dieselbe Weise widmet wie die Naturwissenschaften: Systematisch und in kleinen, klar definierten Schritten: “By assigning to each individual only a small task in philosophical work, just as is standard in scientific practice, we believe that we may look into the future all the more confidently. Through slow, careful construction, insight after insight is obtained, with each individual contributing to the collective effort only that which he can account for and justify. In this methodical fashion, one stone gets added after another, and thus is gradually constructed a stable edifice, which can be further extended by each following generation.” (S. 136 )

    SIX The Circle Makes a Name for Itself

    Für Hans Hahn hat die Philosophie in erster Linie die Aufgabe, die Aussagen der Wissenschaft zu überprüfen und zu hinterfragen, ob sie nicht Schein-Aussagen sind.

    Marx und Mach gemeinsam ist ihre Erdung etablierter Strukturen und Denkgebäude, die sich besonders gegen die etablierten Eliten richtete: Marx im Hinblick auf die ökonomische und soziale Struktur, die sich aus materialistischen Lebensverhältnissen ergibt, und Mach im Hinblick auf die wissenschaftliche Erkenntnis, die sich dem Beobachtbaren und dem Messbaren unterzuordnen habe.

    SEVEN Tangents

    Für Otto Neurath bot die Statistik eine Möglichkeit, die wahren Lebensverhältnisse der Menschen zu erfassen und zu kommunizieren. Er entwickelte dazu eine eigene, sehr konkrete Bildsprache, die ihm half, entsprechende abstrakte Messungen konkret zu repräsentieren.

    Die Architektur von Adolf Loos war gekennzeichnet durch gerade Linien und das Fehlen jedweder Ornamentik. Eines seiner Bücher - “Ornament and Crime” - wurde daher auch gerne als “Ornament is Crime” fehl-zitiert.

    Robert Musil über die Philosophie: “Philosophers are terrorists who, having no armies at their disposal, instead subjugate the world by locking it into a system.” (S. 189)

    Robert Musil definiert die Seele: “everything that crawls away and hides whenever there is talk of algebra” (S. 190)

    EIGHT The Parallel Circle

    Am Anfang des 20. Jahrhunderts gab es drei rivalisierende Schulen der Mathematik: “the logicists, whose goal was to reduce mathematics to logic; the formalists, who were looking for an ironclad proof that mathematics was contradiction-free; and the intuitionists, who redefined mathematics by insisting on everything being explicitly constructible, and restricting the use of the Law of the Excluded Middle.” (S. 221)

    Gödel und Turing konnten nachweisen, dass es kein endliches Set an Axiomen gibt, aus denen sich die gesamte Zahlentheorie formal ableiten lässt. Dabei ist keineswegs gesagt, dass unsere Mathematik widersprüchlich ist, nur, dass sich deren Widersprüchlichkeit nicht formal nachweisen lässt: “God made mathematics consistent, and the Devil made sure that this cannot be proven.” (S. 228)

    Karl Menger postuliert, dass es in der Mathematik keine definitiven Regeln über zulässige und unzulässige Methoden geben kann, dass die Axiome, die diesen Methoden zugrunde liegen, aber immer offen gelegt werden sollten.

    NINE The Circle Squeezed

    Für Karl Popper ist es nicht die konkrete Methode, die wissenschaftliche von nicht-wissenschaftlichen Aussagen unterscheidet. Vielmehr ist es die empirische Überprüfbarkeit und insbesondere die Falsifizierbarkeit einer Aussage. Wissenschaft wird auf diese Weise zu einer iterativen Annäherung, in der Hypothesen durch bessere Hypothesen ersetzt werden, und nicht zu einem stabilen Gebilde bewiesener Aussagen, wie es der Wiener Kreis postulierte.

    Schlick über Induktion als Erkenntnismethode: “Induction is merely guesswork guided by method— a psychological, biological process whose study has nothing to do with logic.” (S. 240)

    Carnap abstrahierte die Betrachtung logischer Systeme weg von “der Sprache” oder “der Logik” hin zu einer allgemeinen Perspektive, die beliebige Systeme betrachtbar und vergleichbar macht. Sein Toleranz-Prinzip hält fest, dass die Wahl eines axiomatischen Systems letztlich beliebig ist und auf die Nützlichkeit oder den Geschmack basiert werden kann.

    Für Wittgenstein bestimmt sich die Bedeutung einer Aussage über den Kontext und die Regeln ihrer Verwendung. Der Wiener Kreis stellte vielmehr die “Methode ihrer Verifikation” in den Mittelpunkt. (Vielleicht ist dies aber im Endeffekt kein Widerspruch, wenn man z.B. das Toleranz-Prinzip Carnaps hinzuzieht oder eine Unterscheidung zwischen Wahrheitsanspruch und diskursiver Wirkung - Habermas?)

    TEN Moral Matters

    Moralische Aussagen als solche sind nicht empirisch überprüfbar und damit als wissenschaftliche Aussagen “sinnlos”. Karl Menger versuchte hier, eine formale Ethik zu konstruieren, die Carnaps Toleranz-Prinzip auf unterschiedliche moralische Blickpunkte anwenden konnte.

    Für Kant widerspricht die Moral dem menschlichen Wesen und kann nur durch harte Selbstdisziplin erreicht werden. Für Schlick hingegen war moralisches Handeln eng mit Freude und Wohlbefinden verbunden, da der Mensch tief im Innersten moralisch handeln wolle.

    Schlick griff Friedrich Schillers Blick auf das Spielen auf, der schrieb: “Man only plays when he is a man in the fullest meaning of that word, and he is only completely a man when he plays.” (S. 282) Für Schlick war die Bereitschaft zu spielen hingegen ein wichtiges Zeichen für Jugend (im Geiste).

    ELEVEN The Circle’s End

    Fundamentale Beobachtungen - “Protokollsätze” - waren für Popper das Fundament der Wissenschaft und gleichzeitig immer in gewisser Weise subjektiv. Schlick hingegen gestand ein, dass die Überprüfung unserer theoretisch gewonnen Erwartungen durch empirische Beobachtungen ein Aspekt der Wissenschaft sei - aber keineswegs ihr Fundament.

    Für Mach war “The aim of science is the fitting of facts to thoughts, and the fitting of thoughts to each other” (S. 303) Dabei ging er jedoch noch von einem Bild konsistenter Wissenschaft aus, dass spätestens durch Gödels Beweis ad acta gelegt werden musste.

    Turing gelang es, Gödels Unvollständigkeitstheorem auf die Rechenfähigkeit von Computern zu übertragen.

    TWELVE Circling the Globe

    Rudin über die Situation der Juden im Österreicht der 1930er: “In one respect, we were better off than the German Jews. There the screws were tightened gradually, and for the first couple of years there was hope that it would all blow over, that a different government would be formed, that things would get back to normal. As a result, many German Jews procrastinated until it was too late. In Austria, though, it became absolutely clear within a couple of days that the only option was to get out.” (S. 327)

    Gödels halber Beweis der Kontinuumshypothese zeigte, dass auch in der Mengenlehre unterschiedliche axiomatische Herangehensweisen möglich wahren: eine Cantorsche und eine nicht-Cantorsche Mengenlehre.

    THIRTEEN Fadeout

    Popper und der Wiener Kreis waren sich in ihrem Denken ähnlicher, als zumindest erster eingestehen wollte. Auch Popper war der festen Überzeugung, die Frage nach der “wahren” Bedeutung von Begriffen könne nur in den Wahnsinn führen.

    Kuhn stellte sich gegen Poppers Theorie der Falsifizierbarkeit von Theorien als Kern der Wissenschaft. Diese schien ihm nicht nur faktischen Realität der Wissenschaft zu passen, in der kaum ein Forscher sich der Widerlegung der eigenen Theorien widmet. Darum formulierte er seine zutiefst soziologische Theorie wissenschaftlicher Paradigmenwechsel innerhalb eines sozialen Systems.

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    • 🌟 Die philosophischen Grundlagen unserer heutigen Physik wurden in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts gelegt.

      Die heutige Physik basiert weniger auf den philosophischen Grundlagen dessen, was üblicherweise "wissenschaftliche Revolution" genannt wird, sondern vielmehr auf einer kontroversen Diskussion in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.