"Erzählende Affen" von Samira El Ouassil und Friedemann Karig

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    Samira El Quassil und Friedemann Karig bieten einen souveränen Überblick über die Theorie von Narrativen und dem klassisch westlichen Narrativ der “Heldenreise”. Sie zeigen dann, wie diese (und andere) narrative Strukturen unsere heutige Gesellschaft prägen, uns im Umgang mit der Klimakatastrophe jedoch hemmen.

    Zusammenfassung

    1 Gewohnte Welt – Prolog

    Narrative sind grundlegende Erzählstrukturen, die konkreten Geschichten zugrunde liegen - beispielsweise Annahmen über kausale Zusammenhänge, Menschenbilder oder andere “ist halt so”s. Diese Narrative prägen unser Denken und Handeln, wie aktuell z.B. die Idee von dem selbst gemachten Glück oder der Überlegenheit des Menschen über die Natur. Dabei wird deutlich, dass Narrative nicht wahr sein müssen, um akzeptiert zu werden. Sie können - im Gegenteil - sogar aktiv zerstörerisch wirken.

    2 Ruf des Abenteuers – Erlöser, Dämonen, Heldinnen

    Eine klassische Form, Geschichten zu strukturieren und zu analysieren ist die Idee des individuellen Helden (oder der Heldin), die als Individuum ein Abenteuer bestreitet. Sie bilden damit individuelle Entwicklung ab und erfassen die Kämpfe und Rückschläge, die wir auch erleben. Gleichzeitig bilden sie eine Projektionsfläche für unsere eigenen Hoffnungen auf Erlösung. Dabei spielen gerade auch die Antagonisten eine zentrale Rolle.

    Das geht so weit, dass man unsere westlichen Geschichten mit künstlicher Intelligenz auswerten kann und über den Verlauf des “Glückslevels” der Hauptfigur typisieren kann. Eine Studie unterscheidet dabei sechs Formen: »Rags to Riches«, »Riches to Rags«, Mann im Loch, Ikarus, Aschenputtel und Ödipus.

    Etwas anders gewendet, können auch “Masterplots” identifiziert werden, die den allermeisten (westlichen) Geschichten zugrunde liegen: z. B. Rivalität, Rettung oder Rache.

    3 Die Weigerung – Wie werde ich mein eigener Held?

    Dadurch, dass wir Geschichten konstruieren, können wir eine chaotische Welt in Abfolgen bringen und auf diese Weise Ordnung schaffen. Wenn wir diese Abfolgen zudem als Kausalitäten begreifen, erlauben sie uns sogar, eine eigene aktive Kontrolle über den Ablauf in der Welt.

    Geschichten ermöglichen es uns, das was war, das was wird und sogar das, was sein könnte, sprachlich zu formulieren und damit zu manifestieren. So können wir Wissen und Erfahrung unabhängig von der Zeit und der Situation kommunizieren und so als Gruppe wie als Individuen überleben und uns weiterentwickeln.

    Auch für unsere Identität spielen Geschichten eine zentrale Rolle: Angefangen von dem “Erzähler” in unserem Kopf, der kontinuierlich unser Handeln kommentiert und uns damit das Gefühl einer kohärenten Lebensgeschichte gibt. Mit der Hauptfigur dieser Geschichte können wir uns identifizieren - das schafft wiederum unsere Identität und etabliert uns überhaupt erst als Individuum. Diese Identität wiederum muss vor widersprüchlichen Informationen und Dissonanzen geschützt werden, die plötzlich zur Bedrohung werden.

    Diese Geschichten, die wir kontinuierlich über uns selbst und die Welt erzählen, sind wiederum in hohem Maße davon abhängig, welche Narrative in der Welt um uns herum dominieren, weil diese uns die grundlegenden Kausalzusammenhänge bereitstellen, auf deren Grundlage wir unsere eigene Geschichte erzählen können.

    4 Begegnung mit dem Mentor – Wörter, Sätze, Bilder als Instrumente der Erzählung

    “Das Fundament bilden die Narrative. Darauf schichten sich die Erzählungen als kulturelle Manifestationen von Narrativen und darauf wiederum die konkreten Geschichten, die viele verschiedene Formen annehmen können.”

    Dabei sind Narrative oft mit Signalwörtern verbunden - fallen diese Wörter, werden bestimmte Narrative aktiviert, auch wenn diese vordergründig in der Geschichte überhaupt keine Rolle spielen (s. Dog Whistles). Beispiel: “affordable care” triggert das Narrativ der Gesundheit als Ware und nicht als Menschenrecht.

    5 Überschreiten der ersten Schwelle – Wie das Internet unser Erzählen verändert

    Diese Erzählung des eigenen Selbst wird durch das Internet und insbesondere die sozialen Medien kontinuierlich externalisiert. Wir erzählen die Geschichte nicht nur uns, sondern müssen sie in passenden medialen Formaten auch der Welt präsentieren. Die Strukturen und Formate, in denen wir das tun, prägen wiederum, was wir und wie wir uns präsentieren können: z. B. Konsum, “Erfolg” und das “Jetzt”. Formate, die Entwicklungen oder Prozesse abbilden, sind hier kaum möglich.

    Möglich sind hingegen alternative oder zersplitterte Identitäten, die z. B. über unterschiedliche Accounts gespielt oder ausprobiert werden können.

    Dass die Identität hier kontinuierlich auf der “Vorderbühne” steht, macht sie angreifbar, sodass sie sich gerade in konflikthafteren Plattformen - wie z. B. Twitter - stärker schützen muss und damit in “kulturellen Konflikten” leicht von Gruppen mobilisieren und instrumentalisieren lässt.

    6 Bewährungsproben, Verbündete, Feinde – Welche Narrative unsere Welt bestimmen

    Es ist relativ egal, ob die in einer Gesellschaft etablierten Narrative der Wahrheit entsprechen. Hier bringen die Autor*innen die Idee der “Suspension of Disbelief” ein, die üblicherweise z. B. zwischen einem Zauberer und dem Publikum besteht.

    Die Autor*innen beschreiben mehrere bekanntermaßen unwahre “Märchen für Erwachsene”, die trotzdem lange Zeit akzeptiert werden bzw. wurden: der homo oeconomicus, “die Götter müssen verrückt sein”, “die Erfindung des Königs” und “Jeder ist seiner Krone Schmied”.

    7 Vordringen zur tiefsten Höhle – Die ewige Verführung von rechts

    Der Faschismus hat keine eigene positive Erzählung, sondern versteht sich vor dem Negativ eines übermächtig erscheinenden Feindes, der bezwungen werden muss. Dabei geht er so “pragmatisch relativistisch” vor, dass sich kein theoretischer Kern oder literarischer Kanon etablieren kann. Er setzt vielmehr darauf, den Menschen, die sich als Antagonisten in einem gesellschaftlichen Konflikt wahrnehmen, das Gefühl zu geben, wieder zu handlungsmächtigen Protagonisten auf der “richtigen Seite” werden zu können.

    8 Entscheidende Prüfung – Welche Geschichten sich Deutschland und die USA über sich selbst erzählen

    In den USA dominiert die deep story eines Aufstiegsversprechens für die treuen geduldigen Amerikaner in einem christlichen Utopia. Gleichstellungsprojekte erscheinen hier als illegitimes “Vordrängeln”, das dieser deep story zutief zuwiderläuft.

    Die deutsche deep story ist geprägt von den preußischen Eigenschaften des Geistes und des Gehorsams - also der angepassten Pflichterfüllung ohne den Willen zu großer Veränderung. Durch den Zweiten Weltkrieg und die Shoah kommt ein tiefgreifender Widerspruch hinzu, dass sich “das niemals wiederholen dürfe, von dem niemand etwas wusste”.

    9 Ergreifen des Schwertes – Das nicht so starke Geschlecht

    Es gibt sehr unterschiedliche Narrative über Männer und Frauen, die unser Denken bis heute deutlich prägen: So stehen weibliche Figuren für das Chaos und die Natur, die durch den starken Mann eingefangen werden müssen. Gleichzeitig werden sie als sexuelle Ressource verstanden, die jedoch schwer zugänglich sein kann.

    Den eigenen Schutzraum verlassen zu können, um eine Heldenreise zu erleben, ist ein Privileg.

    Der männliche Held bezieht seine Kraft aus seiner Isolation und seiner Kraft. Die Heldin hingegen bezieht ihre Kraft aus der Vernetzung und dem Wissen. Demzufolge ist Wonder Woman eher ein Held und Harry Potter eine Heldin.

    10 Rückweg: Das Ende der Menschheit wird nicht im TV übertragen – Woran Erzählungen beim Klima scheitern

    Der Umgang mit der Klimakrise fällt uns auch deswegen so schwer, weil er narrativ kaum zu fassen ist und nicht in etablierte narrative Strukturen passt. Sie dient vielmehr lediglich in ihren Konsequenzen als Hintergrundfolien für etablierte Plots. Da sie real ist, erlaubt sie keine distanziert-lustvolle Identifizierung und sie bietet auch keine konkreten Pro- und Antagonisten, um die sich eine klassische Heldenreise entwickeln könnte.

    Tatsächlich gibt es zahlreiche Narrative, die dem erfolgreichen Kampf gegen die Klimakatastrophe entgegenstehen: 1. Die Rivalität zwischen Ökologie und Ökonomie (Pos. 5261) 2. Wir werden verzichten müssen und Dinge werden verboten– der Ikarus-Plot 3. Hedonismus ist gleich Freiheit– die Aschenputtel-Geschichte (Pos. 5326) 4. Technologie wird uns retten– vom Tellerwäscher zum Millionär 5. Man kann ja eh nichts ausrichten: vom Millionär zum Tellerwäscher 6. Macht euch die Erde untertan

    All diese Strukturen ließen sich unter den richtigen Umständen jedoch auch positiv wenden, indem sich eine eng verbundene und aktive Ingroup gegen die entsprechenden Entwicklungen stellt - im Grunde also eine kollektive Heldenreise mit der Klimakatastrophe als Antagonisten.

    11 Auferstehung – Der erschöpfte Affe

    Heute haben sämtliche Meta-Narrative ihre Wirkung verloren - insbesondere das des kontinuierlichen Wachstums und Fortschritts. Auch individuelle Selbsterzählungen werden zwar kontinuierlich motiviert (Soziale Medien), aber gleichzeitig auch gebrochen. So entsteht eine “Wechselwirkung aus narzisstischer Stimulation und narzisstischer Kränkung”.

    Gleichzeitig fordern immer mehr Gruppen, gleichberechtigt in gesellschaftlichen Narrativen und Diskursen berücksichtigt zu werden. Das wiederum wird von den Etablierten, die immer schon gespiegelt werden, als illegitime Identitätspolitik und Angriff auf die bestehende narrative Ordnung verstanden und führt zu entsprechenden Reaktionen.

    Die Dominanz individualistischer Narrative führt zudem dazu, dass individuelle Hebel in Veränderungsprozessen bis ins letzte Detail ausgeleuchtet werden, während kollektive bzw. gesellschaftliche Perspektiven außen vor bleiben.

    12 Rückkehr mit dem Elixier – Wie wir die Welt vielleicht doch noch retten

    Geschichten und Narrative können Wandel unterstützen, aktuell blockieren sie die notwendige Transformation der globalen Gesellschaft jedoch. Wir müssen eine Geschichte herbei erzählen, in der wir als Menschheit auf einer Heldenreise sind, bei der uns die Klimakatastrophe zum Aufbruch und zum Wandel zwingt.

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